Geschichte (1911-2001)

Die Deutsche Statistische Gesellschaft wurde 1911 als eine Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet, die sich zuvor vom Verein für Socialpolitik gelöst hatte, in dem die namhaftesten deutschen Nationalökonomen, Soziologen und Statistiker vereinigt waren. Diese Vorgeschichte verweist darauf, dass die Deutsche Statistische Gesellschaft in ihren Anfängen ganz auf das Anwendungsfeld Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet war.

Erster Vorsitzender war der Leiter des Königlichen Bayerischen Statistischen Landesamtes, Georg von Mayr, zugleich Ordinarius für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik an der Universität München. Publikationsorgane der Gesellschaft waren das von v. Mayr schon 1890 gegründete und heute noch bestehende „Allgemeine Statistische Archiv“ und das von 1914 bis 1944 herausgegebene „Deutsche Statistische Zentralblatt“. Als Forum für die Erörterung wissenschaftlicher und organisatorischer Fragen wurden Jahresversammlungen eingeführt. Seit 1928 sind sie Teil der in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Städtestatistiker veranstalteten „Statistischen Woche“.

Sehr früh widmete die Deutsche Statistische Gesellschaft dem statistischen Hochschulunterricht besondere Aufmerksamkeit. In den Jahresversammlungen wurden darüber hinaus vor allem bevölkerungsstatistische Themen behandelt, aber auch methodische, institutionelle, wirtschaftsstatistische und andere.

Nach dem Tode v. Mayrs wurde Friedrich Zahn, Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes und Professor in München, 1925 sein Nachfolger und blieb es bis 1943. Zahn war ein fachlich renommierter, national wie international anerkannter Statistiker. Von 1931 bis 1936 war er zugleich Präsident und danach Ehrenpräsident des Internationalen Statistischen Instituts (ISI). In seiner Amtszeit erhöhte sich die Mitgliederzahl der Deutschen Statistischen Gesellschaft rasch von 160 auf 280, und das Feld der behandelten Themen erweiterte sich beträchtlich: konjunkturstatistische, betriebswirtschaftliche und erkenntnistheoretische Fragestellungen sowie ausgewählte Aspekte einer Volkszählung kamen hinzu. Auch Probleme der „repräsentativen Methode“ und des Verhältnisses von Statistik und Mathematik wurden aufgegriffen; jedoch wahrten die deutschen Statistiker dazu eine kritische Distanz. Vertreter der mathematisch-statistischen Theorie erlangten in dieser Zeit kaum Einfluss. Von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie löste sich die Deutsche Statistische Gesellschaft endgültig 1929.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erfolgte die bedingungslose Gleichschaltung aller Vereine, soweit sie sich nicht selbst auflösten. Zahn stellte sich persönlich rückhaltlos auf den Boden der neuen Regierung und sah der Statistik neue Aufgaben zuwachsen, erklärte jedoch gleichzeitig, dass die freie wissenschaftliche Tätigkeit der einzelnen Mitglieder nicht beeinträchtigt werde. Bemerkenswert ist, dass zwischen 1933 und 1938 über ein Drittel der Mitglieder ausgetreten ist oder „gestrichen“ wurde, und der Verlust einschließlich der Gestorbenen durch den Eintritt neuer Mitglieder ausgeglichen worden ist.

Was die inhaltliche Ausrichtung in dieser Zeit anbelangt, so ist eine Anpassung an die Interessen der nationalsozialistischen Regierung augenfällig. Wirtschaftsplanung, Bevölkerungspolitik, Einführung der Wehrpflicht, Erb- und Rassenforschung gaben Anlass zu statistischen Untersuchungen. Sie sind jedoch keineswegs alle ideologisch geprägt, ein Teil davon aber in erschreckendem Maße. Daneben setzte sich die methodologische Forschung über die Statistik als Erkenntnismittel in den Sozialwissenschaften (Zizek, Flaskämper, Blind), Statistik und Induktion (Peter), Mathematik und Statistik (Burkhardt) fort. Ein durchgängiges Kennzeichen aller dieser Aktivitäten war aber die nahezu totale Abschottung gegenüber internationalen Entwicklungen.

Nach dem Rücktritt Zahns wurde sein langjähriger Stellvertreter Johannes Müller, seit den frühen 20er Jahren Präsident des Thüringischen Statistischen Landesamtes und Professor in Jena, bis zum Kriegsende sein Nachfolger.

Zum Wiederaufbau der staatlichen Ordnung und zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg wurde die amtliche Statistik sehr früh wieder funktionsfähig etabliert. Abermals war es ein Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes, der die Deutsche Statistische Gesellschaft neu belebte: Karl Wagner. Durch seine Initiative kam es 1948 zur Neugründung. Anknüpfend an die wirtschafts- und sozialstatistische Tradition der Gesellschaft strebte Wagner an, die internationale Isolierung zu überwinden, den Rückstand in der Forschung aufzuholen und auch die stärker mathematisch orientierte Statistik einzubeziehen. Besonders gefördert wurden Theorie, Technik und praktische Anwendung von Stichprobenverfahren. Ferner wurden Ausschüsse oder Arbeitskreise für „Stichprobenverfahren“, „Ausbildungsfragen“, die „Anwendung statistischer Methoden in der Industrie“ (mit zwei Unterausschüssen) und „Regionalstatistik“ gegründet. Ein Arbeitskreis für „Statistische Qualitätskontrolle“ hatte nur eine kurze Lebensdauer. Die Mitgliederzahl schnellte nach der Neugründung jedoch rasch auf über 400 hoch.

Im Themenkreis der Jahresversammlungen finden sich nun neben den traditionellen Gebieten (Hochschulunterricht, amtliche Statistik, volks- und betriebswirtschaftliche Statistik) auch Stichprobenverfahren und Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Heiß umstritten waren daneben Fragen der statistischen Methodologie in den Sozialwissenschaften.

Als Wagner nach langer Krankheit 1960 nicht mehr kandidierte, wurde Gerhard Fürst, Präsident des Statistischen Bundesamtes, zum Vorsitzenden gewählt, und die Geschäftsstelle wurde nach Wiesbaden verlegt. Auch seine Amtszeit dauerte 12 Jahre. In der Ausschussarbeit gab es eine Reihe von Erweiterungen und Konsolidierungen. Außerdem führte Fürst jährliche Fortbildungskurse ein, von denen er während und nach seiner Amtszeit sechs Kurse selbst geleitet hat.

Auch Fürst verfolgte das Ziel, die Gesellschaft als einen Treffpunkt der Statistiker aller Richtungen zu erhalten. Dennoch war unvermeidbar, dass eine Persönlichkeit wie er, der den Aufbau der deutschen amtlichen Statistik nach dem Krieg und das System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen wesentlich mitgestaltet hatte, auch den Aktivitäten der Gesellschaft ihr Gepräge gab. Das Äußerte sich in der Bevorzugung volks- und betriebswirtschaftlicher Themen bei den Jahresversammlungen, die inhaltlich weit gespannt und oft von grundsätzlicher Art waren. Dennoch gab es Bemühungen, der zunehmenden Zahl von Mitgliedern aus den Hochschulen, an denen damals immer mehr statistische Lehrstühle eingerichtet wurden, Rechnung zu tragen. So war z. B. die Jahresversammlung 1968 mathematisch-statistischen Methoden und deren Anwendungen gewidmet.

Mit der Wahl von Wolfgang Wetzel zum Vorsitzenden der Gesellschaft im Jahre 1972 erlangte diese – vor allem in den Hochschulen gepflegte – Ausrichtung der Statistik eine wachsende Bedeutung. Es ist Wetzels persönlicher Verdienst, diese Erweiterung des Themenspektrums und eine entsprechende Veränderung der Mitgliederstruktur initiiert und durchgesetzt zu haben, ohne dabei die wissenschaftlichen und fachlichen Interessen der praktischen Statistik zu beschneiden. Neue Impulse gab Wetzel der Gesellschaft vor allem durch die Gründung eines „Ausschusses für Empirische Wirtschaftsforschung und Angewandte Ökonometrie“ und die Einführung der Pfingsttagungen, die sehr bald zu einem attraktiven Vortrags- und Diskussionsforum für die aus den Hochschulen kommenden Gesellschaftsmitglieder wurden. Die Jahrestagungen blieben hingegen wichtigen wirtschafts- und sozialstatistischen Themen gewidmet.

Mit Wetzel beginnt aber auch insofern eine neue Phase in der Gesellschaft, als von da an jeder Vorsitzende nach seiner vierjährigen Amtsperiode nicht erneut kandidiert hat, als Vorstandsmitglied aber meist nochmals zur Verfügung stand. Es waren dies: Hildegard Bartels, Karl-August Schäffer, Heinz Grohmann, Siegfried Heiler, Joachim Frohn, Peter-Th. Wilrich, Reiner Stäglin. Dieser nun schon zur Norm gewordene regelmäßige Wechsel hat der Gesellschaft eine beachtliche Flexibilität in der Kontinuität gegeben. Neue Ideen konnten eingebracht und verwirklicht werden, ohne dass sie sogleich die bewährten Traditionen vernachlässigten. Die Mitgliederzahl stieg in dieser Zeit auf über 800 an.

Außer Hildegard Bartels, von 1972 bis 1979 Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, waren oder sind sie alle Hochschullehrer, Reiner Stäglin zudem hauptberuflich in einem Wirtschaftsforschungsinstitut tätig. Das hat die Verankerung der statistischen Theorie und der Ökonometrie im Arbeitsfeld der Gesellschaft nachhaltig gefestigt. Die Themen der Jahrestagungen in dieser Zeit, die oftmals zugleich von großer gesellschaftlicher Bedeutung waren, belegen das deutlich. Die Pflege der theoretischen Statistik und der Ökonometrie erfolgt vorzugsweise in den dafür zuständigen Ausschüssen und auf den Pfingsttagungen.

In den beiden letzten Jahrzehnten gab es eine Reihe nennenswerter Innovationen und Aktivitäten. So wurden die Geschäftsstelle vom Statistischen Bundesamt an den Ort des jeweiligen Vorsitzenden verlegt und eine EDV-gestützte Verwaltung eingeführt. Zum ersten Mal wurde eine Informationsschrift der Gesellschaft bereitgestellt, die hier in 4. Auflage vorliegt. Neu gegründet wurden ein „Ausschuss für Technische Statistik“, der später zu einem solchen für „Statistik in Naturwissenschaft und Technik“ erweitert worden ist, und ein „Ausschuss für die Methodik Statistischer Erhebungen“, der thematisch Hochschulen und amtliche Statistik in besonderem Maße verbindet. Neu geschaffen wurde auch ein jährlicher Workshop für Nachwuchswissenschaftler mit hochrangigen Dozenten als Diskutanten. Seit 2000 ist die Deutsche Statistische Gesellschaft im Internet vertreten.

Weitere Aktivitäten waren eine „Resolution zur Volkszählung“ und ein „Memorandum zur Entwicklung des Faches Statistik an den Hochschulen in den neuen Bundesländern und Ostberlin“ sowie eine erfolgreiche Integration der dort tätigen Statistiker in die Gesellschaft. Seit einigen Jahren nimmt die Deutsche Gesellschaft für Demographie an der Statistischen Woche teil. Weiterentwickelt wurden ferner die Verbindungen zu ausländischen statistischen Gesellschaften; damit zusammenhängend fand 1994 die Statistische Woche in Wien statt. In vergangener Zeit war die Gesellschaft schließlich wesentlich daran beteiligt, das Internationale Statistische Institut zu veranlassen, seinen Weltkongress 2003 nach einer 100-jährigen Abstinenz erstmals wieder in Deutschland, und zwar in Berlin, durchzuführen.

Nicht alles ging in den letzten drei Jahrzehnten – wie auch früher schon – ohne kontroverse Diskussionen vonstatten. Dennoch gelang, was in einer Zeit globaler wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen nicht selbstverständlich ist: Alle Mitgliedergruppen, ob sie aus der amtlichen Statistik, der empirischen Wirtschafts- und Sozialforschung, aus Hochschulen, Wirtschaftunternehmen oder Behörden kommen, sehen in der Gesellschaft ein Forum, das auch ihren Belangen Rechnung trägt. Mehr noch: Das wechselseitige Verständnis und die wechselseitige Achtung sind deutlich gewachsen. Dennoch bleibt unverkennbar, dass die gegenseitige geistige Befruchtung – die Einsicht in die Rahmenbedingungen und Probleme der praktischen Statistik bei der Methodenforschung und die Nutzung der in der Forschung entwickelten Methoden in der wirtschafts- und sozialstatistischen Praxis – auch in Zukunft eine Aufgabe bleibt.